«Typisch gibt es bei uns nicht.»

19.12.2024 Rahel Jakovina im Gespräch mit Simone Zürcher

Die Kindernotaufnahmegruppe Kinosch in Bern bietet Kindern in akuten Notlagen nicht nur Schutz und Betreuung, sondern auch die Möglichkeit, die Weihnachtszeit kreativ und individuell zu gestalten. Simone Zürcher, die Leiterin der Kinosch, erklärt, wie kulturelle Vielfalt, emotionale Herausforderungen und spontane Festtagsplanung den Alltag während der Feiertage prägen – und warum Weihnachten dort trotzdem eine besondere Zeit bleibt.

Die Kinosch ist die Kindernotaufnahmegruppe des Kompetenzzentrums Jugend und Familie Schlossmatt in Bern. Sie hat sich auf die Krisenintervention für Kinder im Alter von 6 bis 14 Jahren spezialisiert. Hier finden Kinder in akuten Notlagen kurzfristig Schutz und Betreuung – manchmal sogar noch am selben Tag, an dem eine Platzierungsanfrage gestellt wird. Die Gründe für die Unterbringung sind vielfältig: Sie reichen von familiären Konflikten und Überforderung der Eltern bis hin zu Vernachlässigung oder Suchtproblematiken. Die Kinder bleiben in der Regel bis zu drei Monate in der Kinosch, bevor sie entweder in ihre Familien zurückkehren oder in eine weiterführende Betreuung vermittelt werden.

Simone Zürcher leitet die Kinosch. Im Gespräch mit Rahel Jakovina von YOUVITA gibt sie einen Einblick, wie das Weihnachtsfest in der Kinosch aussieht:

Rahel Jakovina: Frau Zürcher, wie sieht ein typisches Weihnachtsfest in der Kinosch aus?

Simone Zürcher: Typisch gibt es bei uns nicht. Weihnachten ist bei uns jedes Jahr anders, und das macht es so besonders. Es hängt von der Gruppenzusammensetzung ab und davon, was den Kindern wichtig ist. Es gab Jahre, in denen wir ein sehr traditionelles Fest mit Weihnachtsbaum, Geschenken und Weihnachtsliedern hatten. In anderen Jahren ist Weihnachten ein eher normaler Abend, weil die Kinder das so wollen. Wichtig ist, dass wir ihre Wünsche und Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen.

Rahel Jakovina: Wie gehen Sie mit der kulturellen Vielfalt der Kinder um? Feiern Sie Weihnachten überhaupt, wenn die Kinder keinen Bezug dazu haben?

Simone Zürcher: Unsere Gruppe ist oft sehr heterogen. Aktuell betreuen wir beispielsweise unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, für die Weihnachten keine Bedeutung hat. Wir sind da flexibel und respektieren die religiösen und kulturellen Hintergründe der Kinder. Gleichzeitig erleben wir oft, dass Kinder neugierig sind auf die Schweizer Kultur. Sie kommen damit ja auch in Berührung, zum Beispiel in der Schule. Dann erzählen wir uns gegenseitig von unseren Traditionen und schaffen Gelegenheiten, dass die Kinder die Kultur kennenlernen können – aber immer nur, wenn sie das möchten.

Rahel Jakovina: Was sind die grössten Herausforderungen für Sie und Ihr Team in dieser Zeit?

Simone Zürcher: Einerseits ist da das Emotionale. Weihnachten ist für viele ein Fest der Familie, und wenn die Kinder ihre Eltern nicht sehen können oder dürfen, wirft das Fragen auf und löst Emotionen aus. Trotzdem ist Weihnachten auf der Kinosch überhaupt keine traurige Angelegenheit. Die meisten Kinder sind offen dafür, auf der Kinosch etwas Eigenes zu kreieren. Sie sind neugierig, wie andere Kinder Weihnachten feiern und wem es was bedeutet und überlegen gerne zusammen, wie man die Feier- und Ferientage gestalten könnte. Andererseits gibt es die organisatorischen Fragen: Geschenke besorgen, den Weihnachtsbaum organisieren, die Gläser für den Rimus rechtzeitig aus dem Hauswirtschaftsbereich holen. Das klingt nicht nach sehr viel Aufwand. Man muss sich aber bewusst sein, dass wir Kinder betreuen, die sich in einer akuten Krisensituation befinden. Zum Beispiel stand letztes Jahr der gemeinsame Weihnachtsbaumkauf eine Woche lang jeden Tag auf der Einkaufsliste und immer kamen Notfälle, Krisen und Betreuungsbedürfnisse dazwischen – bis zum 24. Dezember! Dann war der Marktstand, der die Bäume verkaufte, weg. Das endete damit, dass ich im Quartier den letzten Baum bei «Rüedu» fand, ihn in eine Ecke stellte, mit dem Velo zur Arbeit fuhr und ihn später mit den Kindern mit dem Tram abholen ging.

Rahel Jakovina: Das Team haben Sie nicht erwähnt. Stellt es für die Mitarbeitenden eine Herausforderung dar, an Weihnachten arbeiten zu müssen?

Simone Zürcher: Wir sind ja eine konfessionslose Organisation, und die Mitarbeitenden haben unterschiedliche Einstellungen zu Weihnachten. Manche feiern es intensiv, andere nicht. Es gibt Mitarbeitende, die an solchen Tagen bewusst arbeiten möchten. Manchmal haben wir Glück und es gibt eine gute Balance im Team, andere Jahre ist es hingegen etwas herausfordernder, den Arbeitsplan zu erstellen. Wir stellen sicher, dass genügend Kolleg:innen anwesend sind, die Freude daran haben, den Abend mit den Kindern zu gestalten. Und Mitarbeitende können angeben, welchen Feiertag sie frei haben möchten: Weihnachten oder Neujahr.

Rahel Jakovina: Gibt es etwas, was für Menschen, die nicht regelmässig mit der Kinosch zu tun haben, überraschend oder schwierig zu verstehen ist?

Simone Zürcher: Das Thema Geschenke. Es ist schön, dass die Advents- und Weihnachtszeit auch eine Zeit der Gedanken an andere Menschen und eine Zeit des Gebens ist. Wir werden manchmal kontaktiert von Organisationen oder Privatpersonen, die den Kindern, die hier bei uns sind, eine Freude machen möchten. Die Kinder freuen sich natürlich über Geschenke, zumal sie oft armutsbetroffen sind. Aber es ist wichtig, dass keine Erwartungen entstehen, die wir und die Kinder nicht erfüllen können. Aus Datenschutzgründen sind bei uns z.B. keine Samichlausbesuche möglich und die Schenkenden werden auch kein Foto eines Kindes bekommen, das das Geschenk mit strahlenden Augen auspackt. Hinzu kommt die persönliche Situation der Kinder, die z.B. Dankeskarten unrealistisch macht. Der andere Punkt bei den Geschenken ist, dass wir nicht schon im Oktober sagen können, was sich die Kinder, die bei uns sind, wünschen. Wir wissen meist erst sehr kurzfristig, wer Weihnachten bei uns verbringen wird. Deshalb finden wir es toll, wenn Menschen erst kurz vor Weihnachten nachfragen oder uns Dinge schenken, die die ganze Gruppe oder alle Kinder gut gebrauchen können. Bei uns sind das unter anderem Fussbälle oder Elektronikwaren wie Bluetooth-Kopfhörer.

Rahel Jakovina: Wie blicken Sie auf die Weihnachtszeit in der Kinosch?

Simone Zürcher: Es ist immer eine spannende und herausfordernde Zeit, die viel Raum für Kreativität lässt. Gleichzeitig ist es auch eine Gelegenheit, über Werte nachzudenken und gemeinsam mit den Kindern zu überlegen, was uns wichtig ist. Das macht diese Arbeit so besonders und bereichernd.


Simone Zürcher ist Leiterin der Kindernotaufnahmegruppe Kinosch der Organisation Schlossmatt in Bern.

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