Neue Wege dank Krise?

15.04.2020 Martina Valentin,
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Vor fast 4 Wochen hat der Bundesrat den Notstand ausgerufen. Dies bedeutetet für alle Institutionsleitenden, sich einerseits darüber Gedanken zu machen, wie man eine Ansteckung mit dem COVID 19-Virus vorbeugen kann und sich andererseits genau auf diesen Ernstfall und Ausnahmezustand vorzubereiten. Gleichzeitig sind sie gefordert, zusammen mit den Teams den Alltag so zu gestalten, dass für die Kinder eine grösstmögliche Normalität und Stabilität erreicht werden kann.

Alles in allem ist es eine sehr anspruchsvolle Zeit, verbunden mit einer grossen Unsicherheit bezüglich des Bevorstehenden, aber auch bezüglich der richtigen Schritte.

Die Schnelligkeit, mit der sich das Virus ausbreitet, und die damit verbundenen Massnahmen seitens des Bundesrats bzw. Bundesamts für Gesundheit führten bei vielen zu Überforderung. Wie soll Distancing in einem Heim für Kleinkinder funktionieren, wo Nähe zentral für das Wohlbefinden der Kinder ist? Windeln wechseln auf Distanz und Isolation im Einzelzimmer? Wohl kaum. Ist ein Besuchsverbot für Eltern der Risikogruppe, deren 2-jähriges Kind in einer Institution untergebracht ist, verhältnismässig? Vermutlich schon. Kann man Besuche per Videochat simulieren? Kommt auf den Einzelfall drauf an.

Die Institutionen der Deutschschweiz berichten, dass sie anfangs meist auf sich alleine gestellt waren, wenn es darum ging, Risiken einzuschätzen, sich vorzubereiten oder ihre Situation zu bewältigen. Klare Empfehlungen der kantonalen Stellen, die für die Bewilligung und Aufsicht von Institutionen zuständig sind, kamen erst nach und nach. Auch diese waren auf die neuartige Situation nicht ausreichend vorbereitet und konnten die ersehnte Unterstützung und Antworten auf dringende Fragen oft nicht in der gewünschten Zeitspanne anbieten. Ebenso wie die Kantonsärzte, welche manche Institution vergeblich versuchte zu kontaktieren, um Informationen zum richtigen Vorgehen oder Schutzmaterial zu erhalten. Oft wurde auf die Empfehlungen und Massnahmen des Bundesamts für Gesundheit verwiesen. Diese sind jedoch häufig sehr generell gehalten oder auf Pflegeheime für ältere Leute ausgerichtet.

Einen anderen Weg ging das Tessin, wie mir Mario Ferrarini, der Leiter der Stiftung Antonia Vanoni in Lugano, per Telefon berichtete. Von Vorteil sei, dass die kantonale Stelle für Aufsicht und Bewilligung schon vor dem Coronavirus sehr eng mit den Institutionen für Kinder- und Jugendliche zusammenarbeitete. Zudem erlauben die dortigen Finanzierungsmodalitäten, Angebote flexibel zu gestalten. Die Förderung der Ressourcen und die Rückkehr nach Hause sind schon lange der Fokus der Stiftung. Als klar wurde, dass COVID 19 zum Probleme für die Kinder- und Jugendinstitutionen werden könnte, trafen sich die Kantonsvertretenden mit den Institutionsleitenden und zuweisenden Stellen, um die Lage zu besprechen und geeignete Hilfestellungen zu installieren.

So hat sich die Stiftung beispielsweise entschieden, dass eigene Ferienhauses in den Bergen nutzen. Jede Woche verbringt dort nun eine Wohngruppe der Stiftung ihren Alltag. Für die Kinder bedeutet das ein bisschen Ferienstimmung und Platz, sich frei zu bewegen. Für den Betrieb ist es eine Möglichkeit, das Distancing besser umzusetzen.

Für die Unterstützung in Gesundheitsfragen ist jeder Institution eine Kinderkrankenschwester zugewiesen. Diese kann rund um die Uhr von der Institution kontaktiert werden. Sie berät die Institution und auf deren Anfrage auch die Eltern zu präventiven Massnahmen sowie zum Vorgehen bei einem Verdacht oder einem bestätigten Ergebnis. Bei einem Kind, das potentiell gesundheitlich gefährdet ist, prüft der zuständige Kinderarzt, wie hoch sein Gesundheitsrisiko ist und was im konkreten Fall zu tun wäre. Für ethische Fragen steht beim Kantonsarzt eine Fachperson zur Verfügung.

Die zuweisende Stelle legt mit der Institution zusammen fest, wo der beste Aufenthaltsort für jedes einzelne Kind ist – zu Hause oder in der Institution. Die Abwägung erfolgt aus medizinischen und pädagogischer Sicht. Bei einem Aufenthalt zu Hause kontaktiert die zuständige Person der Wohngruppe die Eltern täglich, um sich nach der Situation zu Hause zu erkundigen – dies unabhängig von einer Ansteckung durch das Cornonavirus. Bei Bedarf bringt sie ihnen sogar Spielsachen oder Bastelmaterial aus der Gruppe. Einmal pro Woche bespricht diese Person mit der zuweisenden Stelle die Situation des Kindes und der Eltern und vereinbart, wie es weitergeht.

Das Ergebnis ist keine Standardlösungen mit Kompromissen für alle, sondern eine Lösung für jeden Einzelfall. Eine engmaschige, aber wohlwollende Kontrolle garantiert, dass die getroffenen Vereinbarungen angemessen und notwendig sind. Das Verständnis der Eltern ist gross, ihre Leistungsfähigkeit auch. Es stellt sich aktuell heraus, dass manche Eltern und Kinder jetzt in der Krise ungeahnte Fähigkeiten zeigen, die man ihnen früher abgesprochen oder schlicht nicht für möglich gehalten hätte. Dies ist erfreulich, macht aber auch nachdenklich, wie Mario Ferrarini festhält.

Stimmen die bisher getroffenen Lösungen tatsächlich? Bringt die Krise neue Kräfte zum Vorschein, oder waren sie nur verborgen und wurden nicht abgerufen? Auf jeden Fall gilt es nach der Krise genauer hinzuschauen und zu prüfen, ob nicht manche der getroffenen Massnahmen zur Selbstverständlichkeit werden könnten.

Alles andere als selbstverständlich ist der Einsatz des Personals. Dieses hat sich bereit erklärt, momentan vier Tage am Stück vor Ort zu sein mit einer anschliessenden einwöchigen Pause. Dadurch soll die Möglichkeit für eine Ansteckung möglichst gering gehalten werden.

Kreative Lösung und eine intensive sowie koordinierte Zusammenarbeit sind einmal mehr die Antwort auf besondere Herausforderungen. Nicht nur im Tessin wird man das Angebot der Kinder- und Jugendhilfe hinterfragen müssen.

 

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